2020

 

   Kurz nach dem 20. Juli 1944 meldeten wir uns in voller Ausrüstung und Uniform bei unserem Staffelkapitän, einem Major, mit dem Antrag, er möge uns doch zur Waffen-SS versetzen. Wir hatten dabei das Ansinnen, Auszeichnungen wie z.B. das „Eiserne Kreuz“ zu ergattern. Obwohl wir unsere Ausbildung der Flugzeugführer-Schule bei Rügen noch nicht abgeschlossen hatten, meldeten wir drei Kumpels uns trotzdem mit diesem Wunsch. Nach dem Vorbringen unseres Anliegens stauchte schimpfend der Ausbildungsleiter uns 20jährige Draufgänger zusammen. Als sein für uns überraschender Prolog beendet war, nahm er uns mit der Aussage beiseite, er wolle nun, gleich einem Vater zu seinen Söhnen, mit uns reden. Darauf folgend ging er mit uns zu einer großen Europa-Landkarte und erklärte, wie der Frontverlauf im Osten, gleichfalls im Westen sich verhielte, und klärte uns über die hoffnungslose militärische Lage auf. Dann gab er sich,- nur wenige Tage nach dem „20. Juli“ -, als Sympathisant der speziellen Ereignisse dieses Tages zu erkennen. Er lieferte sich damit geradezu uns aus,- da wir in unserem jugendlichen Eifer ihn hätten anzeigen können. Wir waren ja vollends überzeugt, für das Vaterland kämpfen und damit Orden und Ehrenabzeichen für unsere Taten bekommen zu wollen ...

   Mit diesem Moment fiel es mir und auch den anderen wie Schuppen von den Augen, denn durch seine Erzählungen und Erklärungen wurden uns das Ausmaß des verbrecherischen Tuns des NS-Regimes erstmals bewusst. Er hatte uns mit Insider-Informationen aus dem Dunstkreis des „20. Julis“ aufgeklärt, was gemeinhin der Bevölkerung  vorenthalten wurde. Damit äußerte er in aller Klarheit, dass er sich mit dem aktuellen Widerstand verbunden fühlte. Man muss sich nur einmal kurz diesen Mut des Majors vergegenwärtigen,- sich in Lebensgefahr begeben zu haben, um uns vor falschen Entscheidungen bewahren zu helfen. Das Erlebte hatte die Auswirkung, dass wir mit einem Schlag gegenüber dem System in Opposition gingen und lediglich das Nötigste unternahmen.  Alles, was jedoch in Verbindung mit dem Fliegen zusammenhing, da waren wir voll bei der Sache. Die Ausbildung war ja auch kein Kriegseinsatz.

   Ein wenig später ist unsere Einheit zunächst nach Kopenhagen, dann nach Prag versetzt worden. Dort sollten wir als Kamikaze-Flieger das Vaterland verteidigen. Das bedeutete, in alte Jagdmaschinen zu sitzen, um höher als die anfliegenden amerikanischen und englischen Verbände aufzusteigen und sich derart den Flugstaffeln von oben herab ihnen entgegen zu stürzen, sie zu rammen versuchen. Im letzten Moment kann man natürlich aussteigen, doch stieg man zu früh aus, wurde man von der „SS“, am Boden angelangt, aufgelesen und das Urteil lautete in dem Fall: Flucht vor dem Feind! Auf der anderen Seite: Die alliierten Piloten waren auf dieserart von Methode so aufgebracht, dass ausgestiegene Jagdflieger, die noch an ihren Fallschirmen hingen, mit Maschinengewehren systematisch abgeschossen wurden.

   In dieser Einheit hatten wir ebenfalls einen vernünftigen Vorgesetzten, einen Oberst, der diesen Wahnsinn nicht minder mitmachen wollte. So hieß mit einem Mal der Marschbefehl, nach Gardelegen bei Magdeburg loszuziehen. In Kolonne konnte man nicht mehr wegen der Tiefliegerangriffe unbehelligt das Ziel erreichen. So bekam jeder Einzelne der in Prag noch einsatzfähigen Militärangehörigen, die schließlich zu einer neuen Kampfeinheit bei Magdeburg zusammengefasst werden sollten, einen Passierschein mit der Maßgabe, auf welchen Wegen auch immer, sich am Ziel einfinden zu sollen. Dieses Prozedere haben wir natürlich ausgenutzt und stets uns so doof angestellt, wie wir es nur vermochten. Z.B. stiegen wir an irgendeinem kleinen Bahnhof aus, hatten uns einen Stempel in unser Heft geben lassen, dass wir hier an falscher Stelle geraten seien. Wir verzögerten demnach unsere Anreise, so lang es ging. Einen Clou dieser Tour möchte ich besonders erwähnen: Wir kamen schließlich in den Harzbereich und entschieden uns für einen Trip mit der Harzquerbahn. Statt Magdeburg zu erreichen, genossen wir nun die schöne Aussicht vom Brocken über das Land. Der Bahnhofsvorsteher musste uns diesen „Fauxpas“ abstempeln. Schließlich hatten wir unsere Hefte voller Stempel, die bezeugten, dass wir uns auf „schnellstem“ Wege befunden hatten, Magdeburg erreichen zu wollen.

   Am 1. April 1945 erreichten wir letztendlich unser Ziel und ich schrieb noch einen letzten Brief per Feldpost an meine Mutter, der auch noch angekommen ist. Dann ging es auf LKWs Richtung Holland. Scheinbar waren wir die einzig zusammengehörige Gruppe inmitten einer zusammengewürfelten Einheit völlig sich gegenseitig unbekannter Soldaten. Wir hockten stets zusammen und ließen uns auch nicht z.B. bei Einteilungen auseinander bringen. Der Konvoi wurde „begleitet“ von Tieffliegerangriffen d.h. raus aus dem Mannschaftswagen und rein in die Chausseegräben, um jeweilige Deckung suchen zu können.

   Auf diese Art und Weise erreichten wir Delfzijl und gerieten augenblicklich in einen „Zingel-Kessel“ alliierter Truppen, die von Arnheim aus herüberkamen. Im allerletzten Moment gelang es noch, sich aus der überaus schwierigen Lage befreien zu können. Zu Fuß machten wir 200 Mann uns auf den Marsch,- weit auseinander gezogen, um den feindlichen Jagdbombern keine konzentrierte Angriffsfläche bieten zu wollen -, nun Richtung Papenburg in Friesland. Einige Maschinengewehre hatte die kleine Einheit noch, die auf klapprigen Handleiterwagen montiert, hinter uns hergezogen wurden. Auch zwei Kühe befanden sich in unserem Schlepptau, die kurzerhand von holländischen Bauern konfisziert wurden, um das leibliche Wohl der Mannschaft sichern zu wollen.

   Bei der Überquerung der Grenze Mitte April wurden wir von Bauern am Wegesrand begrüßt, z.T. mit Speck und Brot versorgt und mitleidsvoll luden sie uns in ihre Häuser ein. Doch zahlreiche im Wind schwingende, an Bäumen aufgeknüpfte Soldaten, die ihren Dienst zuvor desertierten und von der „SS“ in Bauernunterschlüpfen aufgespürt worden waren, rieten uns zur Mahnung, nicht zu sehr unsere Verzögerungstaktik zu übertreiben und wenigstens mit den letzten „Mitstreitern“ vor uns Blickkontakt halten zu sollen. Bei der Ankunft in Papenburg wurden wir heftig wegen unserer Verspätung zusammengestaucht.

   Vor versammelter Mannschaft, morgens kurz vor Abmarsch zum nächsten Zielort, wurde gefragt, ob es Freiwillige gäbe, die die requirierten Kühe hinter sich herziehen wollten. Unsere spontane Meldung für diesen so unerwarteten und für uns persönlich dienlichen Dienst kann man sich vorstellen. Der Oberfeldwebel meinte barsch hinterdrein, dass wir im Falle unserer Enthaltung sowieso dies als „Strafe“ hätten tun müssen. So hatten wir zwei Kühe, waren wieder auf „natürliche“ Art am Ende der Kolonne zu finden.

   Im nächsten Dorf stellten sich die Kühe störrisch an und blieben schließlich stehen. Ein vorbeikommendes Mädchen lachte herzhaft. „Ja, Ihr müsst doch die Kühe melken. Seht doch mal die Euter an, die können doch gar nicht mehr weiterlaufen!“ Sie erbarmte sich, holte zwei Eimer und molk die Kuh. Die Milch gaben wir ihr und marschierten gut gelaunt weiter. Der Kontakt zur Einheit brach durch diesen Vorfall nun vollständig ab. So zogen wir von Dorf zu Dorf in etwaiger Richtung unseres  kommenden Sammlungsortes.

   Trotz eines für uns guten Hergangs, befanden wir uns jedoch durch den Verbindungsabriss in einer prekären Lage. Griffen uns etwa Gendarmerie oder „SS“ auf, fehlten uns Papiere, die unsere „Mission“ hätten ausweisen können. So meldeten wir uns bei einer Stelle, erklärten einem Oberst unsere Lage und baten ihn um einen offiziellen Marschbefehl. Er studierte unsere Papiere und  meinte grinsend: „Ihr habt das Fliegen ja Euch auch anders vorgestellt!“, und stellte daraufhin die gewünschten Papiere aus,- dies mit einem Ziel, das wir uns nun ausdenken konnten. Emden schien uns der weiteste Ort von der Meldestelle zu sein, so dass wir ihn eintragen ließen. Mit diesen nun amtlichen Papieren,- zwei Kühe nach Emden befördern zu müssen -, zogen wir wohlgemut von dannen. Die Kühe waren gleich Lasttieren mit unseren Habseligkeiten und Gewehren bepackt und das Tagespensum von uns auf maximal 3 km festgelegt. Es sprach sich in der Gegend herum, dass junge Soldaten mit zwei Kühen zu erwarten seien. An den jeweiligen Dorfrändern fanden sich meist Mädchen ein, die uns schon erwarteten, um die Kühe melken zu wollen und die Brotzeitteller der Bauern waren für uns meist schon bereitet.

   Wir hatten eines Tages den Eindruck, unsere Haare schneiden lassen zu sollen, und fanden tatsächlich in einer kleinen Ortschaft einen Frisörladen. Die Kühe banden wir wie im Westernfilm die Pferde, am Laternenpfahl direkt vor der Eingangstür an und betraten hierauf den Laden. Wir mussten ein wenig warten, da zwei Buben noch zu frisieren waren. Vor dem Verlassen des Ladens nahmen die Beiden Haltung an und bezeugten laut schreiend dem Führer ihre Ehrerbietung. Ortwin flüsterte anscheinend zu laut, dass der Gruß aber doch zu stramm ausgefallen sei und hier noch die alte Ordnung herrschte. Der Frisör ging zunächst in einen Nebenraum, telefonierte kurz, um dann von ihm die Haare geschnitten zu bekommen. Ohne Hitlergruß verabschiedeten wir uns und zogen zwei Kilometer weiter. Bei einem Bauernehepaar kehrten wir ein, die uns freundlich aufnahmen.

   Große Aufregung zerstörte augenblicklich die Verträumtheit dieses Ortes. Des Feldweges knatterte ein Motorrad heran, im Beiwagen ein Offizier, der schon von weitem schrie: „Da sind sie ja, diese Lumpen und Verbrecher!“ und wollte uns auf der Stelle verhaften,- dies im Beisein des völlig verängstigten, alten Bauernehepaars. Ortwin war in dieser Situation cooler als ich und sagte mit fester Stimme: „Herr Major, so lassen wir uns nicht beleidigen! Entschuldigen Sie sich vor den Leuten hier, denn wir sind keine Verbrecher!“ Der Major tobte daraufhin noch mehr und ergoss Triaden von derartige Floskeln über uns: „Als ihr noch nicht geboren ward, hatte ich schon das Ritterkreuz!“ Bedächtig fingerten wir unsere Papiere aus der Tasche und forderten den wutschnaubenden Major auf, diese zu lesen. Mit versteinertem Gesicht muffelte er, es sei alles in Ordnung und schickte sich an, in seinen Beiwagen zu steigen. „Einen Augenblick bitte,“ sagte Ortwin kaltschnäuzig, „Sie haben uns beleidigt und uns als Verbrecher beschimpft. Bitte entschuldigen sie sich vor diesen Leuten hier, dass wir keine Straftäter sind!“ Der Major schluckte und presste seine Entschuldigung heraus: “Das sind keine Verbrecher, so sehen die ja auch nicht aus!“, und entschwand mit seinem Fahrzeug. Die Aufarbeitung der Ereignisse mit dem Ehepaar ergab, dass „unser“ Frisör Ortsgruppenleiter dieser Ortschaft war und die Feldgendarmerie im Laden vor unserem Haarschnitt angerufen hatte.

   Jeder von uns hatte einen zurecht geschnitzten Wanderstock, auf denen oben im Knauf zu lesen war: „Tabula Amore“. Im Verlauf der Stöcke von oben nach unten waren die Vornamen der Mädchen eingeritzt, die während unserer Wanderschaft auf besonderes Interesse stießen. Ein Name wurde auch an diesem Tag den Stöcken freudvoll hinzugefügt.

   Als wir von dieser Bauernschaft am nächsten Morgen aufbrachen und die Landstraße erreichten, gerieten wir in eine Militärsperrkette. All unsere Papiere halfen nichts: Die Kühe wurden uns weggenommen, wurden in eine Kampfeinheit gesteckt und sollten in Bad Zwischenahn das völlig marod gewordene Vaterland verteidigen. Kurz darauf hatte ich die Gelegenheit, die Nachricht von Hitlers Tod  im „Volksempfänger“ zu vernehmen.

   Inmitten der Wälder bei Bad Zwischenahn lagen wir lediglich 300 m den kanadischen Truppen gegenüber. Wir spürten, dass das Ende nahte und gruben uns tief mit unseren Stechspaten in das Erdreich. Über uns wurde immer noch geschossen,- wir aber spielten unten im engen Erdloch als Zeitvertreib Steckschach. Die Kameraden neben uns hatten sich einen Steinwurf entfernt ebenfalls eingegraben, meinten jedoch, immer noch etwas verteidigen zu müssen und schossen auf den Feind. Der kam in Form eines schweren Kampffahrzeugs zu ihrem Erdloch und zermalmte sie drehend mit ihren Panzerketten. Das war am 27. April, ein Ereignis, das Ortwin veranlasste, zu den Kanadiern überzulaufen. Das entsprach nicht meiner Einstellung und entschied, mich lieber überrollen zu lassen.

   Es war eine stille, geradezu friedvoll zu bezeichnende Nacht, in der ich nun einzig mit mir allein war. Ich reflektierte die Ereignisse im Nebenerdloch und fragte mich, was passierte, wenn mir dies ebenfalls geschähe. Im Verlauf dieses Nachsinnens erschien mir eine Vision. Ich sah mich dabei unversehens in einem Gefängnis versetzt,- in Finsternis zwischen dicken Gitterstäben gefangen -, und hörte ein lautes, höhnisches,- ja als teuflisches zu bezeichnendes mir zugedachtes Gelächter. Mit einem Mal war es gleißend hell und eine Lichtgestalt öffnete mir das Gefängnistor, löste mich von den Ketten und geleitete mich aus dem Gefängnis. Mit einem Mal entschwand diese wundervolle und befreiend wirkende Vision. Ich versuchte, abermals in sie hinein zu tauchen, doch vergebens. Gleichwohl realisierte ich, was geschehen war: ich hatte Jesus mit meinen Sinnen wahrnehmen dürfen und habe daraufhin das erste Mal in meinem Leben ein Gebet gesprochen. Goethes „Faust“ und Nietzsches „Zarathustra“ hatte ich als Reklamhefte in der Tasche, bat nun aber in diesem Gebet um die Gabe einer Bibel.

   Am 2. Mai war es dann soweit: Zusammen mit einem Leutnant lag ich im Gebüsch. Keine 3 Meter entfernt, suchten Kanadier systematisch die Gegend nach deutschen Soldaten ab. Lieber jetzt offensiv sich zeigen, als aufgespürt und erschossen, so dachten wir, und gaben uns zu erkennen. Sofort schrien sie: „Hands up!“ Daraufhin sagte ich zu meinem Kameraden, „Du, sie meinen, wir sollen die Hände unten lassen!“ Die passende Antwort wurde uns handgreiflich gegeben: Im hohen Bogen flogen wir in den nächsten Graben.

   Wir kamen nun in Gefangenschaft d.h. ein großes Feld wurde eingezäunt und 60'000 Soldaten darin eingepfercht,- jeweils 3'000 in einer Sektion. Der kanadische Lagerleiter einer solchen Sektion war begeisterter Boxer und richtete dafür einen Platz ein. Er plusterte sich eines Tages auf und rief laut vernehmlich: „Na, wer will es mit mir aufnehmen?“ Ortwin sagte laut, er kenne jemanden, und zeigte auf mich. Er wusste aus  gemeinsamen Berliner Zeiten, dass ich Jugendmeister dieser Sportart von Berlin war. Ich winkte ab, da ich nun als Christ nicht mehr boxen wollte. Der Lagerleiter stichelte solang, dass ich dachte, o.k. noch einmal und stieg in den „Ring“. Ich tänzelte leichtfüßig um ihn herum. „Du hast ja Angst, Du Kleiner!“ Nun war es genug des Vorspiels und durch meinen platzierten rechten Haken sank er benommen zu Boden. „Verzeih mir Jesus, ich will es nicht mehr tun“, betete ich. Kurz danach tauschte ich mit einem überglücklichen Studienrat meine beiden Reklamhefte gegen eine Bibel und wurde mit dem Wasser aus einer Konservenbüchse getauft