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Der Weg, die Spur und der Ton
 

Harald Jegodzienski

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Meine bildnerische Arbeit ist in „Erdtöne" als klammernde Überschrift zusammengefasst:

Der älteste
Menschenschädel
3,2 Millionen Jahre alt

Es ist eine Verneigung vor der Vergänglichkeit als eine elementare Ebene von Reflexionen, die aber gleichzeitig die speziellen Töne von Lebendigkeit herausarbeiten und konservieren möchte. (Vor einiger Zeit schnappte ich aus einem chinesischem Film folgende Sätze auf: Alles, was wir anfassen können, ist vergänglich. Willst Du etwas in den geschlossenen Händen festhalten, hast du nichts. Sind. Deine Hände jedoch geöffnet, steht Dir die Welt offen.

Meine Figurationen sind Kunstfiguren, symbolische Handlungen und Existenzbilder.

Meine erste generelle Entscheidung war, die abstrakte Kunstsprache zu wählen. Ich möchte nicht durch Fehlinterpretationen missbraucht werden, aber auch keine Beliebigkeit und abstrakte Nettigkeiten formulieren. (Dazu später ...)

Wie aber ist das Problem zu lösen, Realität verarbeitend abstrakt zu besprechen, obwohl wir alle in ihr verhaftet sind und in ihr leben? Zu dieser generellen Fragestellung gesellen sich schier unvereinbare weitere Positionen, Fragestellungen und halte dabei meinen Kompass in Richtungen, die (eigentlich) unvereinbar sind:

  • Etwas bilden, aber nicht etwas abbilden zu wollen und doch Erinnerungen von Erlebtem zu wecken.
  • Von Weitem einen Bild-Kosmos wahrzunehmen, der sich im Nahbereich wiederum zu völlig neuen autarken Ebenen der Betrachtung sich öffnet bzw. entfaltet.
  • Etwas zu formulieren, also etwas in Form zu bringen, das lange gewachsen erscheint, und doch soll der persönliche Gestus erfahrbar sein.
  • Obwohl die Schriftform gewählt ist, sollen Farbfelder und Formfelder umschrieben sein.
  • Es soll die Fläche bejaht werden und doch soll sie körperhaft wirken.
  • Die Bilder und Skulpturen sollen tatsächlich sein, ohne die konkrete Sächlichkeit eines Vorbildes in den Vordergrund zu heben.
  • Meine Arbeiten sollen für sich stehen, ohne beliebig zu sein.
  • Die Formulierungen sind still, wollen aber sich äußern und bewegt sein.
  • Sie umschreiben Illusionsräume, doch wollen die Arbeiten konkret sein. Sie wollen leicht sein und doch berichten sie vom Erdhaften.
  • Sie berichten vom Einzelnen, doch das Ganze soll mitbeleuchtet werden.
  • Sie sollen von mir etwas transportieren, doch der Betrachter meiner Arbeiten soll ebenfalls sich selbst in ihnen erinnern und finden können und sich angesprochen fühlen.

Diese aufgezählten Punkte entsprechen meinen „vorgerückten" Fragestellungen und kleinen Entscheidungen. Nun möchte ich ein paar Gedanken folgen lassen, die Begriffe wie „Bewegung", „abstrakte Äußerung", „Vor-Bild" und meine Auffassung von „Spiel" näher beleuchten sollen. Danach komme ich wieder auf meine derzeitigen Entscheidungen zurück.

   
 
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Dass diese Seminare sehr autobiografische Züge tragen, zeigt die Tatsache, dass ich Euch ein Spiel mit der Antwortsuche eines „langen Tisches", - als Sinnbild einer Aneinanderreihung verschiedener Aspekte im eigenen Arbeitzyklus -, aber auf Eure Situationen übertragen, im Vorfeld dieser gemeinsamen Zeit angeboten habe. Die daraus entwickelte Fotokopie-Spielform, bei der Ihr aus Eurem Bücherregal oder aus Euerer Bibliothek Abbildungen herausfiltern solltet, spiegelt im Ergebnis eine Sammlung an „schönen" Dingen wieder. (Das Wort „schön" ist meist ersatzlos durch wichtig ersetzbar).

Ihr habt ja über Jahre Bücher über Kunst angesammelt. Eine Sammlung, die Euch nicht ärgert, sondern Ihr habt Euch umgeben mit wichtigen Büchern mit für Euch wichtigem Bildmaterial. Dieser Umstand hat etwas mit Euch ganz persönlich zu tun. Ich ging bei der Spielformulierung davon aus, dass Ihr also positiv besetzte VorBilder in Eurem Bücherschrank habt. Dadurch, dass Ihr den Bücherschrank nicht kurzfristig gefüllt habt, sondern über einen langen Zeitraum, werden sich höchst wahrscheinlich auch so gegensätzliche Formulierungspositionen finden lassen, dass z.B. ein Michelangelo in nicht so großer Entfernung vom Bauhaus-Buch steht, oder das Buch über Botticelli neben Christo, Rodin neben Rückriem etc. etc. Und trotzdem ist es Eure als gut und wichtig empfundene Sammlung von Vorbildern. Dieses Spiel sollte Euch also anregen, Euch bewusst, also wissentlich, mit der scheinbaren Gegensätzlichkeit Eurer Sammlung auseinander zusetzen, um schließlich in der direkten Konfrontation der Abbildungen das Streiten verschiedener Auffassungen zu ergründen: Gibt es bei diesem Studium einen roten Faden, einen gemeinsamen Nenner von Übereinstimmungen zu entdecken? (Meint, die Decke des Geheimnisses zu lüften). - Liegen schließlich vor Euch nach einer Reflexionsphase z.B. eine Beardsley-Grafik Fotokopie, die Abbildung des Chores der Kathedrale von Amiens und eine Kopie der Hokusai-Welle nebeneinander, könnte man zusammenfassend von einer Vorliebe der Kontur, der Linienführung, der grafischen Auffassung ausgehen. Wenn das sich in einer weiterführenden Reflexion bestätigen sollte, wäre es ja auch sinnvoll, diese Erkenntnis in die eigene gestalterische Arbeit mit einfließen zu lassen.

Techniken sind gleich Essrezepturen erlernbar. Natürlich wissen wir um die Wichtigkeit der eigenen Handschrift auch bei der Essenszubereitung. In diesen Seminaren geht es natürlich auch um Techniken. (In der Vergangenheit haben wir nicht nur Techniken ge-, sondern auch erfunden). Hauptgewicht jedoch liegt in der Findung Euer ureigenen Bilder, bei denen ich in Begleitung Eures Weges versuche eine Zeitlang aufzuspüren, was Euer roter Faden sein könnte, was Euch bewegt.

Das Wort „Erfahrung" enthält „fahren" und entsprechend auch den „Weg"; damit liegt in ihm auch eine Bewegungsvorstellung. Stellen wir uns eine „Erfahrung" in diesem Sinne während eines Spaziergangs durch einen herbstlichen Wald vor: Geht man also durch einen Wald, wird erst dann die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Blatt gelenkt, wenn es von der Krone langsam zum Boden trudelt. Erst jetzt erhebt sich das individuelle Blatt von der über-großen Anzahl anderer Blätter. Dieser Eindruck wird nur durch die Bewegung vermittelt. („Nebenbei": Ist das, wodurch wir jetzt spazieren, eine Ansammlung von einzelnen Bäumen, die wiederum eine unvorstellbare Anzahl von Blättern besitzen? Gesetzt den Fall, wir müssten einen Baum zeichnen, auf was beschränke ich mich? Nehme ich lediglich die Kontur eines Baumes zum Anlass, diesen zu signalisieren, oder strukturiere ich die Binnenfläche z.B. mittels einer Frottage so, dass es den Anschein einer großen Anzahl von Blättern hat? Wieder dieses Anhalten zur Entscheidung. Das berührt auch die Diskussion: Soll ich meine bildnerischen Äußerungen im Naturalismus oder in der Abstraktion halten, doch dazu später).

Ein weiteres Beispiel: An einer Ampel, an der ich täglich halten oder vorbeifahren muss, steht ein zweiteiliges Metallschild mit der Offerte „Jede Jahreszeit ist Pflanzzeit". Die Verschraubung des unteren Schildes löste sich mit der Zeit, so dass dieses im Wind hin und her schaukelte. Erst durch diese Bewegung erhob sich das Alltägliche zum Besonderen und ich nahm dieses Schild mit seiner Werbenachricht neu und immer wieder besonders wahr. So in etwa könnte auch die Herleitung von bewegten Leuchtwerbeschriften lauten. Ihre Vorzüge liegen in der Aufmerksamkeit erheischenden Bewegung.

Zum Schluss das Beispiel eines Chamäleon: Gerade die kurze Zeit der Bewegung hebt seine Tarnung auf und das Tier zieht dadurch unsere Aufmerksamkeit auf sich. Durch Bewegung sehe ich das Lebendige.

Wenn Kunst etwas mit der Äußerung von Leben zu tun hat, wie sollte man dann Lebendiges imitierend, verkleinernd und so unlebendig starr bildnerisch wiederholen wollen? Ist dann noch Lebendiges bzw. Leben in einer naturalistischen Darstellungsweise der „Todesstarre" wiederzuerkennen?

Zen kennt keine Begriffe für Dinge und Begebenheiten, jedenfalls will Zen das ausschließen. Durch diese Grundhaltung soll eine tiefe Einsicht in allen Belangen erreicht werden. Gegenwart ist so frei von Begriffsballast und lässt freie Sicht auf die Dinge zu. - Ist nicht die abstrakte Äußerung ein ähnliches Ansinnen?

Bewegung darzustellen ist ein alter Traum von Malern, Fotografen und Bildhauern. Gottgleich wurde und wird versucht, neues und bewegtes Leben künstlerisch zu schaffen, eine immer neue Schöpfungsgeschichte zu schreiben. Da werden Bewegungsabläufe seziert wie Duchamps „Akt die Treppe heruntersteigend" oder die berühmten ersten Fotostudien über Bewegung. Skulpturmaschinen wurden von Tingely oder Luginbühl entworfen, Alexander Calder baute seine Stabiles und Mobiles, auch Videoinstallationen haben diesen Bewegungstraum als Grundlage.

Falls wir auch so einen Traum hegen sollten, was machen wir dann mit unserem so erdenschweren, klobigen Material, um hier zu „bewegenden Dingen" zu kommen? Dieses erdige, schwere Material bewegen zu wollen wäre im Wortsinn tatsächlich schwer. Vielleicht ist dieser Gedanke daher ein Ausweg:

Ist nicht ein Flusskiesel ein Ausbund von Bewegungsvorstellungen, lange im Flussbett kullernd, kollernd zu seiner rund-harmonischen Form gekommen? (Ich glaube der Vergleich zur Entwicklung des Automobils ist hier zulässig. Zunächst baute man fahrende Kisten, die mit steigenden Fahrtgeschwindigkeiten immer mehr die Grundform eines „Eies" angenommen haben, übrigens ein Kosename eines Porsches in den Achtzigern. Windschlüpfrig, - alles ist abgefeilt, um dem Wind keinen zu großen Widerstand zu bieten, um letztendlich die eigene Bewegung zum Optimalen steigern zu können). - Oder ist nicht ein schiefer Baum, von der Wetterseite mit Moos gezeichnet, nicht ein Formprodukt, das sich aufgrund einer vorherrschenden Bewegung geformt hat?

Vorige Woche habe ich den Satz in der Zeitung aufgeschnappt, „das Ruhende ist das Produkt des Bewegten". Damit fällt mir auch das Buch als Beispiel ein. Die ruhig gesetzten, abstrakten und schwarzen Buchstaben provozieren in der „richtigen" Zusammensetzung geradezu stürmische Farb- und Formbilder in der Vorstellung. Jedenfalls sind diese ruhigen Lettern dazu in der Lage. In der Vorstellung entsteht Bewegung. („Buchstaben" kommen übrigens von Buchenstäben, die Schamanen zu einem Orakel warfen, um hieraus ihre Einsichten herauszulesen - Entstehung der Runenschrift).

Nebenbei ist die Sammlung von Zitaten oder Berichten genauso anzusehen, wie die Sammlung von Bildern aus Büchern. Aus so einer Sammlung von Gedanken, aus den verschiedensten Denkrichtungen ausgewählt, die aber aus sich selbst heraus filternd gesammelt worden sind, ergeben sich in der Reflexion und im Widerstreit der Verknüpfungen (vielleicht) neue Ansätze des Denkens - „Aktion Zettelkasten". - Dieser Gedanke ist ebenbürtig mit einem weiteren Vorschlag: Im Werkstattalltag entstehen Zufälle, Abfälle, Missgeschicke oder kleine Entdeckungen am Rande des eigentlichen Formgeschehens. Wenn man diese, gleich den Büchern im Schrank, in „Bedrängnis" zueinander stellt, entsteht ein Panoptikum der Kuriositäten. Von diesem kann man auch später immer wieder im flüchtigen Vorbeigehen, in Verknüpfung mit den momentanen Erlebnissen oder durch neue Sichtweisen ständig lernen. - Solch ein „Zettelkasten" oder „Panoptikum" ist m.E. kein Eintopf, sondern der Ausdruck von Einklang.

Von der anderen Seite aus betrachtet: Wie geht man mit einer so großen Anzahl und kompakter Vielfältigkeit von Bildinformationen z.B. eines Museums um?

In der Grafik-Sammlung
des Museums in Toronto

Seit geraumer Zeit habe ich mir angewöhnt, raummittig die Museums-Säle gemessenen Schrittes zu durchqueren, um dann nur dort zu verharren, wo eine Skulptur oder ein Bild mich „begrüßt". Natürlich ist es meine intuitive Auswahl gewesen, aus dem Augenwinkel wieder einmal die Information zu bekommen: Halt, das hat was mit mir zu tun. Wenn diese Mitteilungen auch in der Reflexion standhalten, kann man davon ausgehen, dass man sich mit der Zeit einen solchen Erfahrungsschatz erworben hat, auf den man sich in der Bewertung seiner Umwelt verlassen kann. Dann hat man auch die Möglichkeit, diesen Schatz studieren zu können, damit man ihn, einem Wörterbuch gleich, wissentlich als Werkzeug benutzen kann. Ich brauche mich also nicht mehr zu den Bildern und Skulpturen hinzubewegen, sondern ausgewählte Maler und Bildhauer kommen mit ihren Arbeiten zu mir. Es sind Vor-Bilder, Bilder vor den eigenen, eigentlichen Bilder. In den anschließenden Reflexionen liegt dann die große Chance, durch diese Vorstellung näher an seiner eigene Stellung zu kommen, - seinen Standpunkt zu finden.

Die Welt spiegelt sich also in uns. Alle Strukturen, Farben und Formen, die nicht mit unserer Folie übereinstimmen, nehmen wir erst gar nicht wahr. - „Wäre das Auge nicht sonnenhaft, die Sonne könnt´ es nicht erblicken" (Goethe). Schönheit liegt demnach schon im Auge des Betrachters. Sobald wir uns also mit dem „Schönem" beschäftigen, finden wir Anklang an unsere innere Schönheit. Es ist die eigene Vollkommenheit, die z.B. in der Natur sich spiegelt und unsere Sehnsucht anregt. Wir erkennen instinktiv in dieser Harmonie wie wir sein könnten und eigentlich gemeint sind.

Es ist also stets „archäologisch" zu hinterfragen:
Stehen meine Formaussagen oder generelle Formulierungen in Übereinstimmung mit mir selbst? Wie sehen die Masken und Floskeln aus, mit denen ich meine, mich in der rauen Umwelt schützen zu müssen?

Zurück zur Bewegungsdarstellung: Berichtet der „unentschiedene" Ausfallschritt einer antik-ägyptischen Reliefdarstellung eines Menschen nicht m e h r von Bewegung, als z.B. das berühmte Reiterstandbild Peters des Großen von Maurice Falconet in St. Petersburg oder die Reiterstatuetten von Whistler (in Amerika)? Dort wird die Bewegung, wie meist auch in der Sportfotografie, in der höchsten Form festgehalten. Aber sie ist nicht mehr steigerungsfähig und bricht in der nächsten Vorstellungs-Sekunde in sich zusammen. Eingefrorene Bewegungsdarstellungen sind wie tiefgefrorenes Hühnerbeine, - in dieser Form schlecht genießbar.

Ist aber nicht im Gegensatz dazu die bildnerische Ruhe eines Kieselsteines, die eines verwitterten Baumes oder eine eben beschriebene Reliefdarstellung nicht die höchste Potenz von Bewegung? Ich möchte behaupten: ja! - Die Ruhe zwischen den Bewegungen, die Mitte eines Bewegungsablaufes birgt die größte Spannung von Bewegung. Es lohnt sich, diesen kleinen Moment des Verharrens in der bildnerischen, statuarischen Ruhe der eigenen Arbeit aufzuspüren.

Zu dem Drang, Bewegung darstellen zu wollen: Es gibt eine alte Schöpfungsgeschichte, nach der Gott den Menschenkörper aus Ton formte, um anschließend die Seele zu bitten, in diesen Körper hineinzuschlüpfen. Die Seele dachte gar nicht daran, dies zu tun. Warum solle sie in einem solch plumpen Körper wohnen, geschweige sich dort auch noch wohlfühlen? Da ersann Gott einen Trick, indem er wohlklingende Flötenweisen spielen ließ. Die Seele wollte daraufhin tanzen und erkannte, sie könne dies nur erreichen, wenn sie doch in diesen plumpen, erdigen Körper hineinschlüpfen würde. Sie tat dies daraufhin und tanzte ausgelassen nach dem Flötenspiel.

Tanz und damit Bewegung ist demnach Leben. (Nach einer neuen wissenschaftlichen Studie über Nahtoderlebnisse wird festgehalten, dass alle Betroffenen, zum Beispiel Herzstillstandspatienten, von dem Eindruck berichteten, ihren Körper mit dem positiven Gefühl von Frieden, Freude und Seligkeit verlassen zu haben. - So in etwa muss sich im Umkehrschluss die Seele vor Eintritt in den schweren Körper gefühlt haben).

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